Tierisch nützlich

Wo wachsen eigentlich Weichkäse, Würstchen und warme Socken?

Einigen Tieren wird jeden Tag ein liebevolles Abendessen zubereitet, während andere selbst auf dem Teller landen. Das Verhältnis der Menschen zu Tieren ist sehr vielfältig und oft widersprüchlich. Sie sind für die einen Mitbewohner, Therapeuten oder Familienmitglieder, für andere in erster Linie Fortbewegungsmittel, Nahrungs- und Kleidungslieferanten. Welche Beziehung der Mensch zum Tier hat ist nicht nur in verschiedenen Teilen der Welt anders, sondern hängt auch sehr von der Tierart ab. Das Rind wird in den Burger und der Hund bei kaltem Wetter in einen Pullover gesteckt - in Indien und China wäre es möglicherweise genau andersherum.

Nutztiere erobern die Welt

Da beachtliche zwei Drittel aller Säugetiere auf diesem Planeten Nutztiere sind und Wildtiere mit 4% nur einen Bruchteil ausmachen, lohnt es sich, dieser bedeutenden Gruppe von Tieren ein wenig mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Denn nur noch wenige von uns sind in einer ländlichen Umgebung aufgewachsen, wo Schafschur, Schlachtfest und morgendliches Melken der Kühe zum Alltag gehören. Wir kennen diese Nutztiere bestenfalls noch aus dem Zoo. Auch im Tierpark Berlin sind rund um den Streichelzoo viele Nutztierrassen zu finden, einige von ihnen sind inzwischen sogar sehr selten geworden.

Tierparkkurator Dr. Florian Sicks ist unter anderem für die Schafe und Ziegen im Streichelzoo des Tierpark Berlin zuständig, wo große und kleine Besucher die Tiere nicht nur sehen, hören und riechen, sondern auch streicheln und striegeln können. Er setzt sich dafür ein, dass alte Nutztierrassen nicht in Vergessenheit geraten und erklärt uns in einem Interview was das besondere an einem Nutztier ist und warum man auch sie vor dem Aussterben retten sollte.

Herr Dr. Sicks, fangen wir ganz von vorn an: Können Sie uns sagen, was man unter einem Nutztier versteht?

Unter Nutztieren versteht man allgemein Tiere, die für uns Menschen einen direkten Nutzen haben und auch wirtschaftlich genutzt werden. Das können zum einen Wildtiere wie der Rothirsch oder die Forelle sein, zum anderen Haustiere, wie Katzen oder Rinder. Haustiere wiederum sind die Nachfahren von Wildtierarten, die der Mensch domestiziert hat. Zwar war der Weg der Domestikation von Art zu Art unterschiedlich, doch das Ergebnis war immer das gleiche. Wenige Individuen einer Art gelangten in Menschenhand und wurden schließlich so gezüchtet, dass sie besser zu den menschlichen Bedürfnissen passten. Gewünschte Eigenschaften waren zum Beispiel weniger aggressive Charakterzüge eines Hundes oder die höhere Milchproduktion einer Kuh.
So stammt das heutige Hausschaf von der Wildform des Mufflons (Ovis orientalis) ab, das schon vor etwa 10.000 Jahren zum ersten Mal domestiziert wurde. Im Laufe der Jahrtausende haben sich diese Tiere genetisch soweit von der Stammform entfernt, dass sie heute als eigene Nutztierrassen bezeichnet werden. Die Welternährungsorganisation zählt derzeit 7616 verschiedene Nutztierrassen, die auf etwa 40 Wildtierarten zurückgehen. Dass pro Wildtierart in manchen Fällen etliche Rassen entstanden sind, liegt daran, dass beispielsweise ein Schaf weltweit an die unterschiedlichen geografischen und klimatischen Bedingungen angepasst sein muss und unterschiedliche Nutzungsschwerpunkte gesetzt wurden (Wolle, Milch, Fleisch). Inzwischen sind allerdings 20% der Nutztierrassen vom Aussterben bedroht.

Warum sind so viele Nutztierrassen so selten geworden?

Mit der Industrialisierung der Landwirtschaft haben sich auch die Erwartungen an die „Erträge“ geändert. Mit Hilfe von Maschinen können nicht nur größere Mengen an Getreide und Zucker produziert werden, die Nachfrage nach Arten, die mehr Milch, mehr Eier und mehr Fleisch liefern, stieg ebenfalls. Bei der Zucht der alten Nutztierrassen standen noch völlig andere, vielfältigere Eigenschaften im Vordergrund. Wichtig waren den Bauern beispielsweise eine hohe Lebenserwartung der Tiere, Robustheit gegenüber der Witterung, Genügsamkeit beim Futter oder gute Mutterinstinkte. Moderne „Hochleistungsrassen“ werden oft nur sehr einseitig auf ein bestimmtes Merkmal, wie eine hohe Milchleistung, gezüchtet. In der derzeitigen Intensivhaltung können alte Rassen unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten nicht mit diesen neuen Rassen mithalten. Deshalb setzt sich heute der Großteil der Nutztierbestände aus wenigen Hochleistungs-Tierrassen zusammen. 

Warum lohnt es sich, diese Arten zu erhalten?

Es lohnt sich aus vielerlei Gründen, die Vielfalt der Nutztierrassen zu erhalten. Alte Rassen mit ihrer großen Bandbreite an genetischer Vielfalt können als Grundlage für neue Züchtungen dienen. Dies könnte wichtig werden, wenn sich Verbraucherwünsche, Haltungs- oder Umweltbedingungen ändern und andere Eigenschaften wie Langlebigkeit oder Robustheit wieder stärker in den Vordergrund treten. Mit dem Verlust jeder Nutztierrasse gehen auch deren Eigenschaften verloren, die mühselig und über Generationen neu gezüchtet werden müssten. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass alte Haustierrassen toleranter gegenüber den Bedingungen im ökologischen Landbau sind. Viele moderne Arten sind für eine ganzjährige Freilandhaltung oder natürlichere Futterbedingungen gar nicht mehr geeignet.  Weil die „alten“ Eigenschaften bei der heutigen Zucht vernachlässigt wurden, gelten die modernen Rassen auch als deutlich krankheits- und stressanfälliger als ihre ursprünglichen Vorfahren.

Aber ist ökologische Landwirtschaft nicht nur eine sehr kleine Nische?

Bio-Lebensmittel liegen nach wie vor im Trend. Die Zahl der ökologischen Erzeuger wächst und die ökologisch bewirtschaftete Anbaufläche ist innerhalb von fünf Jahren um rund 20% gestiegen. Die Vorteile für Umwelt und deren Biodiversität, die der ökologische Landbau im Vergleich zur konventionellen Landwirtschaft hat, werden inzwischen immer mehr erkannt und wertgeschätzt. Durch weniger CO¬2-Emissionen schützt er das Klima, der Verzicht auf Monokulturen sorgt für den Erhalt kleinerer Biotope und auf ökologisch bewirtschafteten Äckern finden sich weit mehr Tier- und Pflanzenarten aufgrund strengerer Regeln beim Einsatz von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln. Die Freilandhaltung von robusteren Nutztierrassen ist nicht nur umweltverträglicher, sondern entspricht auch den natürlichen Ansprüchen der Tiere und ist daher aus Sicht des Tierwohls zu bevorzugen. Letzteres Argument ist für viele Verbraucher sogar das wichtigste. Sie werden sich immer mehr bewusst, unter welchen Bedingungen unsere Lebensmittel hergestellt werden. Sie möchten nicht nur gesündere Nahrung zu sich nehmen, sondern wollen auch, dass es den Tieren gut geht. Diese Bewusstseinsänderung wird sich vermutlich langfristig auch in der Konsumentscheidung widerspiegeln.

Weil die ökologische Landwirtschaft besser für die Vielfalt der Tier- und Pflanzenwelt ist, ist einer unserer Artenschutztipps ja auch, den Fleischkonsum zu reduzieren und auf Qualität statt Quantität zu setzen. Aber was kann ein Tierpark für den Erhalt bedrohter Nutztierrassen tun?

Zum einen tragen wir zum Erhalt dieser Rassen bei, indem wir viele verschiedene alte Rassen halten und auch züchten. Im Tierpark Berlin leben zahlreiche Rassen, die auf der „Roten Liste der bedrohten Nutztierrassen in Deutschland“ stehen, darunter das Gescheckte Bergschaf, die Skudde, das Rotkopfschaf, die Thüringer Wald-Ziege, die Girgentana-Ziege, das Fjällrind, das Mangalitza-Schwein, und die Cröllwitzer Pute.
Zum anderen erfüllen zoologischen Gärten ja immer auch einen Bildungsauftrag. Im Fall der Nutztierthematik ist es ein erster, ganz wichtiger Schritt, den Menschen in Zeiten von Fast Food und Textil-Discountern zu zeigen, wo unsere Lebensmittel und unsere Kleidung eigentlich herkommen. Einmal im Jahr ist bei uns Schafschur - die wenigsten Kinder haben sowas schon einmal miterlebt. Allein schon das Verfüttern von Küken an unsere Raubtiere bringt ein Stück Realität in unseren naturfernen Alltag zurück. In Chicken Nuggets befindet sich vermutlich genau dieselbe Art von Huhn, aber durch die industrielle Weiterverarbeitung vergisst man schnell, dass unser Fleisch nicht auf Bäumen wächst. Unsere beiden Girgentana-Ziegen „Max“ und „Moritz“ zeigen noch eine weitere Nutzungsart neben Lebensmitteln und Kleidung. Sie kommen jeden Mittwoch beim Ziehen des kleinen Ziegenwagens zum Einsatz, womit sie die Pfleger bei der Futterlieferung an die übrigen Tiere im Kinderzoo unterstützen. Damit erinnern „Max“ und „Moritz“ die Besucher daran, dass viele Tiere - auch Rinder, Pferde und Esel - als Lastentiere eingesetzt wurden und an manchen Orten auch heute noch zur Fortbewegung und zum Transport genutzt werden.
 

Aber kann der Tierpark allein durch Aufklärung und Bildung die seltenen Nutztierrassen vor dem Aussterben bewahren?

Langfristig wird man alte Nutztierrassen nur erhalten können, wenn sie in größerem Umfang genutzt werden. Der Tierpark Berlin zeigt nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis Wege auf und gibt Beispiele, wie so eine Rettung durch Nutzung aussehen kann. Wir unterstützen Projekte, die versuchen, mit gefährdeten Rassen wirtschaftlich zu arbeiten, da die gerade in der Anfangsphase wirtschaftlich noch nicht rentabel sind. So geben wir den Nachwuchs der Gescheckten Bergschafe und Skudden an ein Projekt zur Landschaftspflege im Raum Leipzig ab. Dort helfen unsere Schafe in einem ehemaligen Tagebau-Gebiet, wo noch vor 20 Jahren gar nichts wuchs, beim Aufbau der Hutewälder. Für den Erfolg wurde dieses Projekt im Jahr 2013 mit dem sächsischen Umweltpreis ausgezeichnet. Die Wolle der Rotkopfschafe stellt der Tierpark Berlin wiederum einer jungen Berliner Hutmacherin zur Verfügung, die sehr erfolgreich eine eigene Hut-Kollektion aus Rotkopfschaf-Wolle designt und damit einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung dieser seltenen Rasse leistet. Ihre Hüte verkaufen sich weltweit und schafften es sogar auf die Berliner Fashion Week, in die chinesische "Elle" oder die italienische "Vogue". Sie hat einige unserer Jungtiere bekommen, züchtet inzwischen selbst und hält nun die größte Rotkopfschaf-Herde außerhalb Frankreichs, aus der sie ihre Kollektionen fertigt. Auch der Imker, der sich um die Bienen in unserem Schau-Bienenstock kümmert, unterhält noch weitere Bienenstöcke auf unserem Gelände. Den dort gewonnenen Honig verkauft er auf Märkten in der Region.  

Es ist schön, dass es auch außerhalb von Zoos und Tierpark Menschen gibt, die sich für seltene Nutztiere einsetzen. Doch kann eine Handvoll Enthusiasten in Deutschland diese Rassen langfristig vor dem Aussterben retten?

Auf die Bedrohung allein hinzuweisen und Beispiele aufzuzeigen reicht natürlich nicht. Der einzig realistische, nachhaltige und langfristig sinnvolle Weg, um diese Nutztiere vor dem Aussterben zu retten, ist, ihnen ihre frühere Rolle zurückzugeben. Sie müssen wieder für das genutzt werden, für das sie einst domestiziert wurden. Und hier kommen auch die Verbraucher wieder ins Spiel.
Wir sollten darauf achten, woher unser Fleisch, unsere Eier und unsere Kleidung stammen und unser Konsumverhalten überdenken.  Allein in den letzten Jahrzehnten hat sich unser Fleischkonsum pro Kopf verdoppelt. Wir vergessen oft, dass die Fleischproduktion eine „Veredelung“ der Nahrung ist. Damit Hühner, Schweine und Rinder ordentlich Fleisch ansetzen, werden sie mit Mais, Soja oder Weizen gefüttert. Auf den Feldern, wo dieses Tierfutter angebaut wird, ist jedoch kein Platz mehr für Wälder und Wildtiere. Neben dem kleinen Einkaufstipp „regional und saisonal“ gilt deshalb bei allem, was wir konsumieren: Weniger ist mehr.
Nur, wenn es sich für Bauern wieder wirtschaftlich lohnt, auf kleineren, ökologisch geführten Betrieben alte Haustierrassen zu halten, wird mit ihnen auch ein Jahrhunderte altes Kulturgut für zukünftige Generationen erhalten bleiben.

Vielen Dank für das interessante Gespräch. Dann hoffen wir, dass Sie und der Tierpark Berlin beim Erhalt dieser bedrohten Vielfalt noch viele weitere Unterstützer finden!

Öffnungszeiten

Heute, 16. April
9:00 - 18:30 Uhr
Letzter Einlass: 17:00 Uhr
Öffnungszeiten

Fütterungen & Trainings

  • Alle sind satt – heute keine Fütterungen mehr
Alle Fütterungen

Plan

Plan